Türkei und Syrien: Wie erdbebensichere Städte bauen?

Im Mai 2015 wurde Nepal von mehreren aufeinander folgenden Erdbeben erschüttert. 9000 Menschen starben, tausende weitere wurden verletzt. Mehrstöckige Gebäude, Häuser und Tempel brachen in sich zusammen. Sie waren nicht dafür konzipiert, bebender Erde standzuhalten. Der Schaden und die Kosten für den Wiederaufbau gingen in die Milliarden.

Fast acht Jahre später haben die nepalesische Regierung und internationale Hilfsorganisationen Hunderttausende Häuser neu errichtet und sie so gebaut, dass sie den Erschütterungen des nächsten unvermeidlichen Erdbebens gewachsen sind. 

Solch ein Vorhaben wird in der Türkei und Syrien, wo die Todeszahlen und das Ausmaß der Zerstörung um einiges verheerender sind, deutlich schwieriger sein.

Ein zerstörtes Haus auf dem Land in Nepal - der ganze vordere Bereich ist herausgebrochen

Eines der unzähligen zerstörten Gebäude in Nepal 2015

Dringender globaler Bedarf an erdbebensicheren Häusern

Das Ziel der Hilfsorganisationen beim Neuaufbau der Region sei es, besser zu bauen als vorher (gemß dem Motto: “build back better”) und zwar mit lokal vorhandenen, zugänglichen und wirtschaftlich machbaren Bautechniken, so Elizabeth Hausler, Gründerin und Managerin der US-amerikanischen Organisation Build Change, die in Asien, Lateinamerika und der Karibik aktiv ist. 

In Nepal mussten Hausbesitzer damals beim Wiederaufbau mit anpacken. Deshalb hat sich die Japanische Agentur für Internationale Zusammenarbeit (JICA)  auf die Unterstützung lokaler Netzwerke und den Einsatz “mobiler Maurer” konzentriert.  

Diese lokalen Ingenieure wurden von japanischen Experten, die sich mit der Planung erdbebensicherer Gebäude bestens auskennen, in erdbebensicherem Bauen geschult. Die mobilen Maurer reisten von Dorf zu Dorf, halfen beim Wiederaufbau und gaben ihre neu erlernten Techniken weiter.

“Die mobilen Maurer haben uns geholfen, unser Haus Stein für Stein neu zu bauen – und zwar so, dass es stabiler ist und auch beim nächsten Erdbeben nicht zusammenbricht”, so Resham Binita Bhujel, eine alleinerziehende Mutter von fünf kleinen Kindern in einem Dorf nordöstlich von Kathmandu, in einem JICA-Bericht von 2020.

Die meisten der mehr als eine Million beschädigten oder zerstörten Gebäude im ländlichen Nepal bestanden aus traditionellem Steinmauerwerk, die mit Lehm verfugt wurden und im Durchschnitt zwei Stockwerke hoch waren. Viele der Häuser mussten gar nicht abgerissen werden, stellte die Organisation Build Change nach einer Begutachtung fest.

“Ein Großteil der beim Erdbeben beschädigten Einfamilienhäuser konnte für rund 3.000 Dollar repariert und verstärkt werden”, so Hausler zu DW. “Wenn man bedenkt, dass der komplette Neubau dieser Gebäude 20.000 Dollar gekostet hätte, war das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Aufrüstung klar besser.”  Bei der Nachrüstung verstärkten die Bauarbeiter schwache Wände, Säulen und andere Stützstrukturen und ersetzten minderwertige Materialien.

Um für die staatliche Unterstützung in Frage zu kommen, mussten die Hausbesitzer bei ihrem Wiederaufbau erdbebensichere Maßnahmen anwenden, so Kamran Akbar, Spezialist für Katastrophenrisikomanagement bei der Weltbank in Kathmandu. “Es gab keine Einschränkungen für Baumaterialien oder -Methoden, solange sie die Mindestanforderungen bei der Erdbebensicherheit erfüllen.”

Viele der von Build Change und anderen Organisationen in Nepal angewandten Bautechniken beruhen auf dem Prinzip des geschlossenen Mauerwerks, bei dem gleichmäßig verteilte horizontale und vertikale Balken und Säulen aus Stahlbeton verwendet werden.

In einem von Build Change veröffentlichten YouTube-Video vergleicht ein Ingenieur in Haiti die Verstärkungen mit ineinander verschränkten Fingern, die dem Druck von außen viel besser standhalten als zwei geschlossene Fäuste nebeneinander.

Nicht nur in der Türkei und Syrien sondern weltweit besteht dringender Bedarf für katastrophenresistente Unterkünfte. Hausler zufolge werden 2030 bis zu 40 Prozent der Weltbevölkerung in unsicheren Gebäuden leben. “Das ist eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Davon sind genauso viele Menschen betroffen wie vom Mangel medizinischer Versorgung.”

In Chile bebt es ständig

In Chile, einem Land, wo Millionen Menschen auf einem ausgedehnten Netz aus Bruchlinien früherer Erdbeben leben, sind Erdbeben Alltag. Dort hat man die Erdbebensicherung allerdings in den Griff bekommen. “Fast tägliche seismische Ereignisse erinnern uns ständig daran, dass wir uns hier auf wackeligem Boden befinden”, beschreibt Magdalena Gil die Situation. Sie ist forscht am Thema Wiederaufbau nach seismischen Ereignissen im Forschungszentrum für integriertes Katastrophenrisikomanagement (CIGIDEN). “Jeder Chilene, der 30 Jahre alt ist, hat mindestens ein großes [Erdbeben] erlebt.”

“Zum Glück gibt es in Chile strenge Vorschriften bei der Erdbebensicherheit”, so Gabriel Gonzalez, stellvertretender Direktor bei CIGIDEN. 

Es seien diese Richtlinien gewesen, weswegen beim letzten großen Beben der Stärke 8,8 im Februar 2010 nur ein Gebäude eingestürzt ist. Das Gebäude war ein 15-stöckiges Wohngebäude in Concepcion, es war gerade neu gebaut und stand noch weitgehend leer. Durch das Beben und den anschließenden Tsunami kamen landesweit etwa 500 Menschen ums Leben.

Im Laufe der Jahre hat der Bausektor in Chile und anderen erdbebengefährdeten Regionen Techniken entwickelt, mit denen sich moderne Gebäude verstärken lassen. 

Laut Gonzalez gibt es in den chilenischen Erdbebenvorschriften keine Höhenbegrenzung für Gebäude. Stattdessen werden bei diesen Hochhäusern Stahlbetonsäulen und -träger verwendet, die von Stahlrahmen gestützt werden. So entwickeln sie die nötige Flexibilität, um starken Beben standzuhalten. Die Betonträger können brechen, aber die Stahlsäulen sind so konstruiert, dass sie stehen bleiben und nicht einstürzen.

Außerdem gibt es häufig unangekündigte Kontrollen auf den Baustellen. So wird sichergestellt, dass die Bauvorschriften genauestens eingehalten werden. Diese Richtlinien, so Gil, wurden nach jedem größeren Erdbeben seit der Katastrophe der Stärke 9,5 im Mai 1960, dem stärksten jemals aufgezeichneten Erdbeben, kontinuierlich verschärft.

Luftaufnahme der Zerstörung nach dem Erdbeben in Hatay, Türkei

Solche Bilder wie hier in Hatay in der Türkei gab es in Chile lange nicht mehr

Bauvorschriften sind keine Zauberei

Der Schwerpunkt der chilenischen Regierung habe sich zudem seit dem Erdbeben von 2010 mehr auf die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Katastrophenschutzbehörden konzentriert, erklärt Gonzales.

Risikoanalyse und Katastrophenvorsorge spielen heute eine größere Rolle beim Schütz vor künftigen Beben und anderer Naturkatastrophen. Zu den Maßnahmen gehören unter anderem Notfallübungen, Aufklärung und die Instandhaltung alter Infrastruktur.

Chile hat mit die strengsten Richtlinien weltweit und gilt zusammen mit Japan als Vorbild und Vorreiter.

“Diese Bauvorschriften sind keine Zauberei”,  so Gil. Auch die Türkei habe Richtlinien, die modernen Standards entsprechen.  Man müsse auch auf jene Institutionen und Akteure schauen, die solche Vorschriften durchsetzen. “Jede Richtlinie ist wertlos ohne diesen Aspekt. Wenn Bauvorschriften nicht durchgesetzt werden, sind sie nur Papier.”

Türkei und Syrien stehen vor großen Herausforderungen

Diese lasche Umsetzung der Richtlinien ist in der Türkei keine Seltenheit. Experten sind der Meinung, dass dies zum einen den Bauboom und das Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahrzehnte in der Region angefeuert hat und zum anderen heute zumindest teilweise für das Ausmaß der Zerstörung in der Türkei verantwortlich ist.

Seit den 1960er Jahren können sich türkische Bauunternehmen und Privatpersonen in regelmäßigen Abständen über eine Gebühr von der Verpflichtung freikaufen, ihre Gebäude laut Vorschrift sanieren zu müssen. 

Das für die Durchsetzung der Bauvorschriften zuständige Ministerium für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel erklärte 2018, dass mehr als die Hälfte aller Gebäude in der Türkei nicht den geltenden Normen entsprächen.

Für Gonzalez war der Anblick einzelner noch stehender Gebäude inmitten eines riesigen Trümmerfeldes in den Nachrichten aus der Türkei “ein klares Bild dafür, dass einige Gebäude nicht nach den Vorschriften gebaut wurden”. 

Beim Wiederaufbau der Türkei und Syriens werden die Behörden überlegen müssen, was sich ändern muss, damit ihre Häuser und Türme auch beim nächsten großen Erdbeben oder einer klimabedingten Katastrophe stehen bleiben. Nach einer Schätzung des türkischen Unternehmens- und Wirtschaftsverbands belaufen sich die Kosten für den Wiederaufbau auf mehr als 70 Milliarden Dollar (65,2 Milliarden Euro).

Das Beben und die Folgen für Syrien und die Türkei

“Es ist absolut notwendig, dass nicht nur Neubauten katastrophensicher gemacht werden, sondern auch bestehende Gebäude”, so Akbar. Die letztere Option wird oft bevorzugt: Sie ist günstiger und schneller umsetzbar. 

Außerdem ist sie besser für die Umwelt: In einer noch nicht veröffentlichten weltweiten Studie stellt Build Change fest, dass mit der Nachrüstung gefährdeter Wohnungen im Durchschnitt etwa 60 Prozent des CO2-Austoßes, der beim Neubau entstehen würde, vermieden werden können. 

Dazu kommt, dass die Nachbesserung von Gebäuden für mehr Erdbebensicherheit auch zum Schutz vor anderen Gefahren wie Wirbelstürmen, Stürmen und Überschwemmungen beitragen kann.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.