Im deutschen Fernsehen ist es eine kleine Revolution: “Sam: Ein Sachse” berichtet vom Leben schwarzer Menschen in Deutschland. Die Serie basiert auf dem Leben von Samuel Meffire, der 1990 zum ersten schwarzen Polizisten in Ostdeutschland wurde.
Der 1970 in der Nähe von Leipzig als Sohn eines kamerunischen Vaters und einer deutschen Mutter geborene Meffire trat nach dem Fall der Berliner Mauer, aber noch vor der deutschen Wiedervereinigung, in die Deutsche Volkspolizei ein.
Anfang der 1990er-Jahre wurde er für kurze Zeit zum Aushängeschild für ein neues, tolerantes und multikulturelles Deutschland, zum Gesicht einer PR-Kampagne, die eine andere Seite der ehemaligen DDR zeigen sollte.
Die Kampagne, die nach der Wende von der Multikulturalität der DDR berichten sollte, kommt auch in der Serie vor
Vom Posterboy zum Flüchtling
Doch auf den Aufstieg folgte ein dramatischer Fall: Frustriert von der Polizeibürokratie und der politischen Korruption kündigte Meffire bei der Polizei und wechselte die Seiten: Am Ende des Jahrzehnts wurde er wegen einer Reihe bewaffneter Raubüberfälle von der Polizei gesucht. Auf seiner Flucht landete er im damaligen Zaire – heute Demokratische Republik Kongo – wo er in einen Bürgerkrieg verwickelt wurde.
Nachdem er nach Deutschland ausgeliefert und verurteilt worden war, verbrachte Meffire sieben Jahre im Gefängnis.
Die Disney+ Version nimmt sich zwar einige künstlerische Freiheiten – sie ändert Namen, kombiniert bestimmte Ereignisse und erfindet Situationen und Figuren dazu, damit eine siebenteilige TV-Miniserie mit genügend Stoff gefüllt werden kann -, aber die realen Ereignisse aus Meffires Leben bestimmen die Handlung.
Die Serie reflektiert das Schicksal der in Ostdeutschland geborenen Schwarzen
“Als ich vor Jahren zum ersten Mal von Sams Geschichte hörte, dachte ich sofort, das wäre eine tolle Fernsehserie”, sagt Jörg Winger, Produzent und Mitgestalter von “Sam: Ein Sachse”.
“Aber damals, das war 2006, hat uns jeder Fernsehsender, den wir angesprochen haben, die gleiche Antwort gegeben: ‘Ich persönlich liebe die Geschichte. Aber ich glaube nicht, dass das [deutsche] Publikum dafür bereit ist.'”
Der echte Samuel Meffire
Was die Redakteure meinten, so Winger, war, dass das deutsche Publikum Samuel Meffires Realität nicht akzeptieren würde: die eines in Ostdeutschland geborenen Schwarzen, dessen persönliche Geschichte ein anderes Licht auf die gemeinsame politische Geschichte wirft.
Unerforschtes Schicksal nicht-weißer Gastarbeiter in der DDR
Als die Berliner Mauer fiel, befanden sich fast 100.000 nicht-weiße Gastarbeiter in Ostdeutschland, die meisten von ihnen aus sogenannten sozialistischen Bruderstaaten wie Kuba, Vietnam, Angola und Mosambik.
Meffires Vater, ein Ingenieurstudent aus Kamerun, wuchs mit einer “weitgehend positiven” Sicht auf Deutschland auf, sagt Meffire.
“In der Region Kameruns, aus der er stammte, wurde die deutsche Kolonialzeit im Vergleich zu den französischen Herrschern, die danach kamen, als eine Art goldenes Zeitalter angesehen. “
Meffire hat seinen Vater nie gekannt. Er starb an dem Tag, an dem sein Sohn geboren wurde, unter ungeklärten Umständen.
In der Disney+ Serie und in seinen Memoiren “Ich, ein Sachse”, die er gemeinsam mit dem deutschen Historiker und Dramatiker Lothar Kittstein geschrieben hat, stellt Meffire die von seiner Mutter vorgeschlagene Theorie auf, dass sein Vater von Beamten vergiftet wurde, die ihn chemisch kastrieren wollten.
Die Autobiografie Samuel Meffires, auf der die Serie basiert, erscheint im Juni auch auf Englisch
Neonazismus verschärft sich nach dem Fall der Berliner Mauer
Das Leben als schwarzer Junge in Ostdeutschland war nicht einfach, gibt Meffire zu. Aber nach dem Zusammenbruch der DDR wurde es noch viel schlimmer, da rechte Schläger und Neonazis das Machtvakuum ausnutzten.
“Es ist für Westler fast unmöglich, sich vorzustellen, wie es war, aber die Neonazis marschierten einfach durch die Straßen von Dresden, Hunderte von ihnen”, sagt Meffire. “Wenn sie einen Schwarzen entdeckten, verfolgten sie ihn, griffen ihn an und schlugen ihn.”
In seinem Buch nennt Meffire, ein großer Fan von Fantasy-Filmen, diese marodierenden Horden “Orks” und “Vampire”.
Aber überraschenderweise sagt Meffire, dass das Polizeikorps für ihn “ein Ort der Solidarität, der Kameradschaft” gewesen sei. “Ich habe persönlich keinen Rassismus oder Hass erlebt. Wir waren eine Bruderschaft.”
Eine Geschichte, die über Klischees hinausgeht
Die Disney+ Serie, die erste deutsche Produktion des Streaminganbieters, bewegt sich durch mehrere Genres – Politthriller, Krimi, Coming-of-Age-Geschichte – während sie die Geschichte von Meffire erzählt.
Malick Bauer spielt Meffire als Teil einer überwiegend schwarzen deutschen Besetzung, darunter Mitdarsteller und Mitdarstellerinnen wie Tyron Ricketts, Nyamandi Adrian, Paula Essam und andere.
Auch hinter den Kulissen wurde für Vielfalt gesorgt: Im Autorenteam saßen der in Ostdeutschland geborene afrodeutsche Schauspieler und Autor Toks Körner und die österreichisch-nigerianische Drehbuchautorin Malina Nwabuonwor.
Das Ergebnis ist fast schon revolutionär für das deutsche Fernsehen: eine Mainstream-Serie, die sich an ein breites Publikum richtet und eine komplexe Geschichte über schwarze Deutsche erzählt, ohne in Klischees oder Verallgemeinerungen zu verfallen.
Malick Bauer spielt die Hauptrolle in “Sam: ein Sachse”
Ein neuer Blick auf deutsche Geschichte
“Wir haben den Film in der Sächsischen Staatskanzlei in Berlin vorgeführt”, so Winger. “Der ehemalige Innenminister Heinz Eggert, der damals die rechte Hand von Bundeskanzler Helmut Kohl war, sagte, der Film habe ihm einen neuen Blick auf die Geschichte gegeben, die er selbst erlebt hat.”
“Sam: Ein Sachse” ist nicht Meffires Geschichte, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat, sagt der 52-Jährige. Aber es fängt “das Gefühl, die emotionale Wahrheit” seiner aussergewöhnlichen Lebensgeschichte ein.
Meffire lebt heute mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in Bonn, wo er als Sozialarbeiter, Autor und Sicherheitsspezialist arbeitet.
“Sam: Ein Sachse” kann weltweit auf Disney+ abgerufen werden. In den USA ist es auf Hulu zu sehen.
Aus dem Englischen adaptiert von Christine Lehnen.