Für eine Gesellschaft, die sich rühmt, rational zu denken und zu handeln, wird unsere Politik überraschend oft von magischem Denken bestimmt. Damit meine ich, dass schwierige Realitäten ausgeblendet werden – man sucht keine Lösungen, sondern hofft, dass sich Probleme von allein erledigen. Und zwar ganz ohne unser Zutun, also gewissermaßen durch Zauberei.
Zwei Beispiele: In Deutschland wurde Mitte Dezember eine große rechtsextreme Verschwörung aufgedeckt. Bei bundesweiten Razzien fand die Polizei Waffen, Geld und Gold. Mehr als zwei Dutzend Personen wurden verhaftet; darunter waren ehemalige Elitesoldaten, Politiker und ein Adeliger. Sie hatten einen Staatsstreich geplant und bereits schriftlich festgelegt, welche Menschen mach der Machtübernahme zuerst getötet werden sollten. Expertinnen und Experten für Rechtsextremismus warnen seit Jahren vor der Radikalisierung der sogenannten “Reichsbürger”. Nun war der Ernstfall eingetreten.
Bewusste Entscheidung, die Sache nicht ernstzunehmen
Überraschenderweise ist das vorherrschende Narrativ in Politik und Medien, dass es sich nur um ein paar Spinner handele, die sowieso keine Chance gehabt hätten, den geplanten Umsturz auch zu vollziehen. Das widerspricht den Einschätzungen der Polizei: Die Ermittelnden erklärten, dieses Komplott sprenge “alle Dimensionen”. Doch schon eine Woche später war das Thema aus den Schlagzeilen verschwunden. Woher kommt dieses Desinteresse? Oder mehr noch: die bewusste Entscheidung, diese rechtsextreme Verschwörung nicht ernstzunehmen?
Sheila Mysorekar
Wahrscheinlich ist es einfacher, so zu tun, als habe sich mit den Verhaftungen das Problem erledigt. Denn wenn wir die Situation ernst nähmen, müssten Polizei und Bundeswehr nach weiteren rechtsextremen Netzwerken durchleuchtet werden, dann müsste die AfD endlich verboten werden, dann müssten auf vielen Ebenen Konsequenzen gezogen werden, die schmerzhaft sind. Weil sie so lange verschleppt wurden.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist fest entschlossen, Rechtsradikalen den Zugang zu Waffen zu sperren. Ihre Bemühungen werden jedoch nicht von allen Parteien unterstützt. Doch zu glauben, dass sich die Gefahr des Rechtsextremismus von allein erledigt, ist Wunschdenken – unrealistisch und gefährlich.
Auf dem Highway zur Klima-Hölle
Ähnlich ist es bei der Klimakatastrophe. Die gesamte Wissenschaft sagt klar und deutlich, dass die Menschheit keine Überlebenschance hat, wenn bestimmte Kipppunkte des Klimas erreicht werden und die Erderhitzung mehr als zwei Grad beträgt. Um dieses Szenario zu verhindern, müssen weltweit alle CO2-Emissionen sofort gestoppt werden. Der einzig gangbare Weg: erneuerbare Energien nutzen – Wind, Wasser, Sonne.
“Wir sind auf dem Highway zur Klima-Hölle – mit dem Fuß auf dem Gaspedal”, warnt der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, in drastischen Worten: “Die Fossilbrennstoff-Industrie wird uns töten.” Doch wie ist die Reaktion der führenden Köpfe in der deutschen Politik? Sie hoffen auf eine wundersame, noch nicht erfundene oder noch nicht einsetzbare Technologie, die uns ermöglicht, weiterhin so zu leben, wie wir es gewohnt sind – ohne jegliche Änderung unseres Lebensstils. Aber bei weiterer Nutzung fossiler Brennstoffe werden unsere Lebensgrundlagen unwiderruflich zerstört. In Politik und vielen Medien herrscht jedoch magisches Denken: Man setzt auf eine heilsbringende Erfindung, die im allerletzten Moment die Menschheit retten wird. Das ist mehr als unverantwortlich; das ist reiner Wahnsinn.
Ich möchte nicht, dass meine Kinder zur letzten Generation von Menschen gehören, und danach Ratten und Kakerlaken den Planeten übernehmen. Warten wir nicht auf Zauberei, sondern lasst uns jetzt alles unternehmen, um unsere Erde und uns selbst zu retten.
Sheila Mysorekar ist freie Mitarbeiterin der DW-Akdemie und Vorsitzende der neuen deutschen organisationen (ndo), einem bundesweiten Zusammenschluss von postmigrantischen Initiativen gegen Rassismus und für Vielfalt.
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