Meinung: Missbrauchsgutachten in München – Mit Beton gegen Missbrauchsvorwürfe

Bevor Joseph Ratzinger im April 2005 Papst wurde, nannten Kritiker ihn wegen seiner Schärfe den “Panzerkardinal”. Einer der entschlossen aufräumte oder auch kalt abservierte in Theologie und Kirche. Bald nach seiner Wahl folgten Berichte, der angeblich Gepanzerte könne lachen, ja, sei weich. Erstaunen überall.

Nun kommt Joseph Ratzinger ein weiteres Attribut zu. Einer der Juristen, dessen Kanzlei sich viele Monate mit Missbrauch in Ratzingers früherer Diözese München befasste, attestierte dem bald 95-Jährigen eine “sehr betonartige Umgangsweise”. Beton gegen den Vorwurf, Missbrauch vertuscht zu haben.

Eine “Bilanz des Schreckens”

Die rund 1900 Seiten, die von einer Münchner Anwaltskanzlei zum Umgang des Erzbistums München-Freising mit Fällen von sexuellem Missbrauch zusammengetragen hat, sind eine “Bilanz des Schreckens”. Einer der Juristen sagt das wörtlich – und zwar mehrfach. Die dicken Bände sind auch ein Dokument der Kirchengeschichte – sie stehen für eine neue Dimension, eine neue Etappe bei der Klärung.

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DW-Redakteur und Kirchenexperte Christoph Strack

Sechs Erzbischöfe standen seit 1952 an der Spitze dieses Erzbistums. Allesamt waren sie bereits zuvor oder wurden im Amt zu Kardinälen erhoben. Alle sechs, ausnahmslos, machten sich in unterschiedlicher Zahl deutlichen Fehlverhaltens im Umgang mit Fällen von sexuellem Missbrauch schuldig. Drei der sechs leben noch. Und von 1977 bis 1982 war eben jener Joseph Ratzinger Erzbischof von München, der dann in Rom weiter Karriere machte und 2005 als Benedikt XVI. den Petrusthron bestieg. Deshalb schaute an diesem Donnerstag die ganze katholische Welt gebannt nach München.

Mit Blick auf die fünf Ratzinger-Jahre sprechen die Gutachter von vier Fällen des Fehlverhaltens, in denen der Erzbischof hätte handeln müssen, aber nicht gehandelt hat. Da blieben zum Beispiel Geistliche, deren Missbrauchstaten bekannt waren, dennoch in der Seelsorge. Ratzinger selbst äußerte sich in einer 82-seitigen Stellungnahme. Darin weist er “Behauptungen” zurück, beteuert sein “Nicht-Wissen” oder – “falls es wichtig war” – sein sehr konkretes Erinnern. Und dementiert entschieden, an einer Gremiensitzung teilgenommen zu haben, bei der ein besonders übler Fall von Vertuschung besprochen wurde. Indes: Die Gutachter belegen mit glaubwürdigen Details, dass Ratzinger eben doch dabei war.

Kirche selbst kann keine Aufarbeitung leisten

Ratzingers Schreiben ist ein empörendes, zugleich auch tragisches Dokument. Man mag es nicht mehr lesen, wenn dieser so großartige Theologe als Voraussetzung für ein kirchenrechtliches Verfahren erläutert, dass es hierzu “ein vollendetes auf die Erregung der Geschlechtslust gerichtetes Delikt” gebraucht hätte. Wohlgemerkt – es geht um den Umgang mit Minderjährigen!

So bleiben vier Punkte angesichts dieser Studie:

(1) Es ist so wichtig, dass die Juristen mehrfach sehr ausdrücklich die Bedeutung der Betroffenen, der Überlebenden von sexualisierter Gewalt ansprachen, ihnen dankten, ihren Mut würdigten, ihre Offenheit. Eigenschaften, die sie keinem Kleriker zusprachen. Und sie haben recht mit der Forderung, dass es als Interessenvertretung die Einrichtung einer Ombudsstelle braucht. Es geht um einen angemessenen Umgang mit Opfern, den Kirchenmänner kaum leisten können.

(2) Es ist wichtig, auf die Kirchengemeinden zu schauen, in denen Priestertäter zum Einsatz kamen und welche die Kirche viel stärker in den Blick nehmen müsste. Gemeinden, Freundschaften, Familien haben sich schon zerstritten über Mutmaßungen und Enttäuschungen. Auch da gilt: Die Kirche versündigt sich an ihrer Basis.

(3) Aufarbeitung kann die Kirche augenscheinlich nicht selbst leisten – die staatliche Justiz muss entschiedener eingreifen. Das zeigt nicht nur das kalte Schreiben des Joseph Ratzinger. Zwei Tage vor der Veröffentlichung des Münchner Gutachtens stand in Köln – noch so ein Hotspot von kirchlichem Vertuschen und Vertrösten – erstmals ein Erzbischof vor Gericht. Als Zeuge. Zeuge im Verfahren gegen einen mutmaßlichen Priestertäter. Da stand der Würdenträger, der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, plötzlich vor dem Richter und musste knapp, präzise und – nach Auskunft jener, die dabei waren – auch kleinlaut antworten. Das zeigt: Staatliche Anwälte oder Richter sollten die Aufklärung voranbringen. Der Staat müsste, wenn er denn überhaupt will, die Aufarbeitung übernehmen. Auch, damit sich Opfer nicht mehr mit Tätern oder der Täterorganisation arrangieren müssen.

Und schließlich (4): Diese klerikal und bischöflich verfasste Kirche, die sich selbst überhöht, um ihren Dreck zu vertuschen, ist nicht mehr die Kirche der Gegenwart. Wenn man überhaupt eine Linie in den gelegentlich merkwürdig anmutenden Äußerungen von Papst Franziskus erahnen mag, dann ist es das Bemühen, die Sehnsucht nach Gott wachzuhalten. Und die Kirche? Kommt irgendwie auch vor. Aber die Überhöhung vergangener Tage ist vorbei. Ob das die katholische Priesterkirche verkraftet?