Früher hatte Maurice Umbdenstock alles unter Kontrolle. Als Rechnungsprüfer war der heute 61-Jährige der Mann mit dem scharfen Blick auf die Zahlen. Zu seinem neuen Job gehört seit ein paar Monaten ein gewisser Kontrollverlust. Wenn Umbdenstock morgens die Tür zur École Maternelle in Munster bei Colmar aufschließt, wuseln sofort 24 Drei- bis Fünfjährige um ihn herum. Was der Tag bringen wird, ist für den Rechnungsprüfer a.D. allenfalls begrenzt planbar. “Ich bin nun mit dem Herzen Pädagoge”, sagt der spät berufene Lehrer mit einem Lächeln zu seiner neuen Aufgabe, “auch wenn ich zugeben muss, dass zu meiner Zeit in den 1960er Jahren die Kinder doch mehr Respekt hatten”.
Maurice Umbdenstock ist einer von fast 30 Lehrern, die von einer Elterninitiative in den vergangenen zwölf Monaten an elsässische Schulen vermittelt wurden. “Der Staat hat hier ein großes Problem Deutschlehrer zu finden. Da haben wir Eltern uns gedacht, dass wir helfen können”, sagt Claude Froehlicher, Präsident des Vereins Eltern Alsace, der mit RecrutoRRS eine eigene kleine Headhunter-Agentur gegründet hat.
Moderne Personalsuche
Vor einem Jahr hat die Elterninitiative damit begonnen, parallel zu den üblichen Ausschreibungen der Behörden, selbst nach geeigneten Deutschlehrern zu fahnden. “Wir machen das modern”, erklärt Froehlicher stolz im Gespräch mit der DW. Mit Anzeigen auf Facebook, Instagram oder den bekannten Job-Portalen und im direkten Austausch mit Interessenten suchen die drei Festangestellten und von der EU und der Region finanzierten Mitarbeiter nach möglichen Kandidaten. Ihre Rechnung ist einfach: Wenn RecrutoRRS zwischen 50 und 100 Lehrer pro Jahr zusätzlich vermittelt, bekommt die Region ihren Deutschlehrermangel in den Griff.
Zweisprachige Schulbildung: Blick in eine Grundschule in Straßburg
Nach einem Jahr zeigt sich Eltern Alsace optimistisch. Mit gut 300 Bewerbern haben die Mitarbeiter gesprochen, rund 70 von ihnen an entsprechende Schulen weitervermittelt – fast 30 wurden am Ende als Vertrags-Lehrer eingestellt. Wie Maurice Umbdenstock, der in seinem Elternhaus noch ausschließlich Elsässisch gesprochen hat und daher jetzt den Kindern in Frankreich Deutsch beibringen kann, bevor er zum Ende des Schuljahres endgültig in Rente geht.
Ungeliebte Provinz
Ein Drittel aller Schulen im Elsass hat heute einen bilingualen Zweig und damit Unterricht, der zur Hälfte auf Deutsch und Französisch gehalten wird. Diese gute Versorgung im Elsass ist auch ein Verdienst der Initiative Eltern Alsace, die sich 1995 gegründet hat, um in der Region möglichst viele Schulen bilingual auszurichten und damit Deutsch und den Elsässisch-Dialekt zu stärken. Während die Zahl der Schulen zunächst kontinuierlich gestiegen ist, stagniert die Entwicklungen seit ein paar Jahren – auch, weil es an Lehrern mangelt.
Die Initiative “Eltern Alsace” sucht aktiv nach Deutschlehrern
Im Vergleich zu anderen Regionen Frankreichs ist das Elsass aber gut versorgt, glaubt Lorenz Herbst. Der Lehrer unterrichtet Geschichte und Geografie am Lycée Jeanne d’Arc in Clermont-Ferrand in der Auvergne auf Deutsch. Auch er steht kurz vor der Rente und würde seinen Posten gerne in gute Hände übergeben.
Die Großregion Auvergne-Rhône-Alpes mit mehr als acht Millionen Einwohnern verfügt über drei Gymnasien (Clermont-Ferrand, Grenoble und Lyon), an denen Schüler das deutsche und französische Abitur (Abibac) gleichzeitig ablegen können. Ersatz für Lehrer zu finden, die Geschichte und Geografie auf Deutsch unterrichten können, ist besonders schwierig. Das zeigt sich schon jetzt bei der Suche nach einer Krankheitsvertretung für Herbst. Der Lehrerberuf werde in Frankreich immer unattraktiver, klagt der Pädagoge, nicht zuletzt wegen der schlechten Bezahlung, die mehr als ein Drittel unter der für Lehrer in Deutschland liegt.
Deutsch als Elitesprache
In der Bildungsverwaltung der Hauptstadt Paris ist Peter Steck zuständig für Deutschlehrer. Er kennt die Klagen aus der Provinz – in Südfrankreich sei die Lage besonders angespannt. Der Beamte bestätigt: Deutsch verliert in ganz Frankreich an Attraktivität – bei den Lehrern, aber auch bei den Schülern. Er macht dafür mehrere Gründe verantwortlich. So habe Deutsch in Frankreich den Status als Elitesprache verloren. Jahrzehntelang wählten besonders leistungsstarke Schüler Deutsch als erste Fremdsprache. “Das hatte in Frankreich einen ähnlichen Ruf wie Latein in Deutschland”, so Steck. Doch das änderte sich spätestens in der 1990er Jahren, als Englisch einen massiven Bedeutungszuwachs erlebte.
Politische Unterstützung: Deutschland und Frankreich fördern schon lange die Zweisprachigkeit
Mit einer Reform versuchte die französische Regierung 2005 gegenzusteuern und richtete bilinguale Klassen an den Mittelschulen ein, wo seitdem Deutsch und Englisch parallel als erste Fremdsprache angeboten wird. “Das hat uns gerettet”, glaubt Steck – die Zahl der Deutschschüler jedenfalls stieg wieder. Heute lernen 15 Prozent der Schüler in Frankreich Deutsch – im Elsass aktuell immerhin 30.000. In der “privilegierten Hauptstadtregion”, so Steck, sind es 18 Prozent.
Hier ist die Lage vergleichsweise entspannt. Gut 80 Prozent der Schulen in Paris bieten heute bilinguale Klassen an. Und doch: Auch an den Pariser Universitäten nimmt die Zahl der eingeschriebenen Deutsch-Studierenden ab. “Germanistik als einzelnes Fach zu studieren, ist heute kaum noch attraktiv”, glaubt der Pariser Beamte. Mit der Fülle an Masterstudiengängen gebe es eine große und verlockende Konkurrenz.
In sechs Tagen zum Lehrer
Franziska Katharina Bauer hat mit Journalistik in Deutschland einen dieser verlockenden Studiengänge studiert. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie gut fünf Jahre in der Medienbranche. Nach ihrem Umzug ins südelsässische Mulhouse entschied sich die junge Frau für einen beruflichen Neuanfang und fand über RecrutoRRS einen Job als Lehrerin. In einer bilingualen Grundschule in Mulhouse übernimmt Bauer als Klassenlehrerin die zwei Tage in der Woche, in denen der Unterricht komplett auf Deutsch stattfindet.
“Mit sechs Einführungstagen war das schon eine Herausforderung”, sagt die 33-Jährige rückblickend, doch mit ihrer Wahl ist sie bis heute zufrieden. Auch von Schülern und Eltern fühlt sie sich gut angenommen: “Die waren beruhigt, als ich gesagt habe, dass ich bereits ein Jahr lang in China Deutsch als Fremdsprache unterrichtet habe.” Der französische Staat hält für Quereinsteiger mehrere Möglichkeiten bereit, um durch Fortbildungen später auch noch verbeamtet zu werden. An diese langfristige Perspektive denkt Junglehrerin Bauer aber derzeit noch nicht. Erst einmal will sie das erste Schuljahr erfolgreich über die Bühne bringen.