Heimlich steigt Fahrije Hoti auf die Ladefläche eines Lastwagens der Vereinten Nationen. Dort öffnet die junge Frau hastig den Reißverschluss eines weißen Sacks. Der Inhalt: Leichenteile aus einem Massengrab. Kurz darauf: Nicht der fürchterliche Gestank treibt sie aus dem Fahrzeug – ein UNO-Mitarbeiter fordert sie auf, den LKW zu verlassen.
Fahrije Hoti ist die Hauptfigur des kosovarischen Films “Zgjoi” (englisch: Hive, deutsch: Bienenstock), einer von 15 Spielfilmen, die es in die engere Auswahl für einen Oscar in der Kategorie bester internationaler Film geschafft haben. Fahrije gibt es wirklich: Sie ist eine der 140 Frauen aus Krusha, dem “Dorf der Witwen”, die während des Kosovo-Krieges ihre Ehemänner verloren haben. Diese wurden im Verlauf eines serbischen Racheangriffs nach einer Bombardierung durch die NATO im März 1999 verschleppt, viele wurden hingerichtet. 63 von 241 registrierten Opfern werden bis heute vermisst.
Heute betreibt Fahrije Hoti eine Genossenschaft, die den Witwen und Waisenkinder von Krusha das Überleben sichert
In Kosovo gilt die heute 53-Jährige als Heldin, weil sie mit der von ihr gegründeten Genossenschaft “Krusha” sich und ihren Leidensgenossinnen bis heute eine Existenz sichert. Der von ihnen produzierte Paprikaaufstrich wird überall in Kosovo verkauft – und mittlerweile auch in Deutschland und der Schweiz.
“Ursprünglich wollte ich einen Film über die Genossenschaft machen, doch als ich Fahrije Hoti kennenlernte, wurde mir klar: Der Film muss über sie sein”, sagt die Regisseurin Blerta Basholli im Gespräch mit der DW. “Ich war begeistert von ihrer Persönlichkeit, der Art, wie sie sprach, ihrer Vision für das Geschäft und ihrer Originalität, mit der sie alle Herausforderungen überwand. Für mich ist sie eine Superheldin.”
Vorurteile besiegen
In den knapp 90 Minuten des Films bleibt die Kamera nah an der Protagonistin. Die kosovo-albanische Schauspielerin Yllka Gashi, die Fahrije einfühlsam spielt, zeigt eine äußerlich starke, innerlich jedoch zerbrechliche junge Frau. Vor zwanzig Jahren waren Frauen in Kosovo, die für sich selbst sorgen wollten, vor allem in den ländlichen Regionen kaum vorstellbar. Wer das dennoch wagte, war Gerüchten und der Verachtung der patriarchalen Dorfgemeinschaften ausgesetzt und galt als “Hure”.
Yllka Gashi als Fahrije Hoti in ihrem eigenen Auto
Einige Szenen des Films erinnern an Western – nur, dass es nicht John Wayne ist, der sein Pferd vor der Dorfkneipe anbindet und damit alle Blicke auf sich zieht, sondern Fahrije in ihrem Auto, die es wagt, selbst zu fahren. Ein Stein wird geworfen, eine Autoscheibe zerbricht. Doch Fahrije versteckt sich nicht, sie macht weiter – auch wenn sie dafür beschimpft wird.
Mit Western aufgewachsen
Tatsächlich waren Western die Lieblingsfilme der Regisseurin Basholli, als sie ein Kind war. Sie sah sie zusammen mit ihrem Vater: “Er mochte das, weil die Filme ausdrucksstarke Bilder und wenig Worte hatten”, erinnert sich die 39-Jährige im Gespräch mit der DW. “So konnte er sich auf den Film konzentrieren, ohne pausenlos auf die Untertitel schauen zu müssen.”
Die Regisseurin und Drehbuchautorin Blerta Basholli beim Zürich Film Festival im September 2021
Mit 18 Jahren meldete sich Basholli 2001 an der Filmakademie der kosovarischen Hauptstadt Prishtina an. Filmkennern fiel sie erstmalig fünf Jahre später mit ihrem kritischen Dokumentarkurzfilm “Mirror, Mirror” auf. Thema: das sexualisierte Frauenbild der Fernsehsendungen in Nachkriegskosovo. 2011 wurde ihre Kurzfilmkomödie “Lena und ich” auf dem First Run Festival in New York ausgezeichnet.
Szenen ausgelassen
“Zgjoi” ist Bashollis erster Langfilm. Seit der Weltpremiere auf dem Sundance Film Festival 2021 hat der Streifen, der von der Schweiz, Albanien und Nordmazedonien mitproduziert wurde, 16 Trophäen errungen, davon drei bei Sundance. Er ist der einzige Film vom Westbalkan, der es auf die Shortlist der weltweit wichtigsten Film-Auszeichnung, dem Oscar, schaffte.
Yllka Gashi, Fahrije Hoti and Blerta Basholli beim Zürich Film Festival im September 2021
Viele Szenen, die der realen Fahrije während des Kriegs widerfahren sind, hat Basholli bewusst ausgelassen. Sie zeigt nicht, wie Fahrije 1999 mit ansehen musste, wie serbische Paramilitärs die Bewohner von Krusha in die Moschee sperrten; und auch nicht, wie ein serbischer Soldat Fahrijes drei Monate alten Sohn schüttelte, bevor er sie und ihre Kinder gegen Geld nach Albanien fliehen ließ. Es ging nicht um die Frauen als Opfer des Krieges, sondern um deren unendliche Kraft, erklärt die Regisseurin.
Vorbild für eine ganze Töchtergeneration
“Während der Arbeiten an dem Film habe ich oft an Fahrije gedacht. Nach Ende der Kämpfe kam sie mit zwei kleinen Kindern in ihr Dorf zurück und fand ein zerstörtes Haus vor. Ihr Mann war verschollen. Sie musste für die Kinder sorgen – und hatte alle Männer des Dorfes gegen sich. Ihre Kraft hat mich sehr motiviert, diesen Film trotz vieler Schwierigkeiten zu Ende zu bringen”, sagt Basholli, die selbst Mutter von zwei Kindern ist. “Fahrjie ist immer wieder aufgestanden. Das wirst du auch tun – und diesen Film zu Ende bringen, sagte ich mir.”
Für den jüngsten Staat Europas ist schon die Auswahl einer kosovarischen Produktion für die Shortlist der Oscars ein Grund zu feiern. “Die Geschichte von Fahrije steht stellvertretend für die vieler anderer Mütter und Großmütter, die während des Krieges leiden mussten, Vergewaltigungen überlebt und weiter gemacht haben”, sagt Basholli, die während des Krieges selbst als Flüchtling einige Zeit in der Bundesrepublik verbracht hat. “In Deutschland nennt man das Trümmerfrauen.”
Fahrije habe ihr einmal gesagt, sie wolle nicht verzweifeln, da sie sonst kein Vorbild für ihre Tochter sein könne, erzählt Basholli: “Kosovarische Trümmerfrauen wie sie haben eine ganze Töchtergeneration geprägt, die sich nicht mehr mit der Hausfrauenrolle zufrieden gibt. Manche davon sind mittlerweile weltweit bekannt, etwa die erfolgreiche Popsängerin Dua Lipa, die Präsidentin Kosovos, Vjosa Osmani, oder die Judo-Weltmeisterin Majlinda Kelmendi.” Nun hoffen viele in Kosovo, dass bei der Vergabe der Oscars 2022 auch ein neues Vorbild für die nächste Frauengeneration des Landes geehrt wird: die Filmemacherin Blerta Basholli.