UNESCO: “Es geht um das Erbe der Menschheit”

Roman Luckscheiter ist seit 2020 Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission. Im DW-Interview spricht er darüber, was für die ukrainische Kultur durch den Krieg auf dem Spiel steht und wie ihr geholfen werden kann.

 

Deutsche Welle: Herr Luckscheiter, vor einem Jahr begann der Angriff Russlands auf die Ukraine. Wie erinnern Sie sich an diesen Tag?

Roman Luckscheiter: Es war ein Schock. Ich konnte das kaum für möglich halten in Europa, wo man sich in einem selbstverständlichen Frieden wähnte, diese unmittelbare Erfahrung Krieg.

Der erste Gedanke galt den Menschen, aber uns hat bald auch umgetrieben, was bedeutet das für die Bildung, für die Kultur in der Ukraine? Wir haben am Tag selbst eine Stellungnahme veröffentlicht, in der wir den Angriffskrieg aufs Schärfste verurteilt haben. In den nächsten Tagen schlossen sich 40 Nationalkommissionen der UNESCO aus anderen Ländern an. So konnten wir ein Zeichen setzen.

Porträt von Roman Luckscheiter, Generalsekretär der Deutschen Unesco-Kommission.

Roman Luckscheiter

Welche Schritte hat die UNESCO danach unternommen?

Für die UNESCO war der erste Schritt zu sehen, was wird beschädigt, wie steht es um die Infrastruktur in Bildung und Kultur? Sie wertete Satellitendaten aus und sorgte dafür, dass Kulturstätten mit einem “Blue Shield” ausgezeichnet werden, um zu signalisieren, diese Orte stehen unter besonderer Beobachtung der Weltgemeinschaft. Und dann die entscheidende Frage, was können wir tun, auch hier in Deutschland? Wir selbst haben schnell Kontakt gesucht zur ukrainischen Nationalkommission der UNESCO, um einen Überblick zu bekommen. Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien gründete gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt das “Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine”, in dem wir als deutsche UNESCO-Kommission Mitglied sind. Auch die Zivilgesellschaft wurde aktiv und schickte Museen Material zum Schutz der Kulturgüter, vom Feuerlöscher bis zu Verpackungsmaterial.

Können Sie die Schäden an den ukrainischen Kulturstätten beziffern?

Die Zahl der zerstörten Kulturstätten steigt ständig weiter, bisher sind es über 3000 Schulen, 240 Kultureinrichtungen, darunter über 100 religiöse Stätten, 18 Museen, zwölf Bibliotheken und zahlreiche historische Monumente. All das ist stark in Mitleidenschaft gezogen.

Unsere besondere Sorge gilt den Welterbestätten, aber auch dem Weltdokumentenerbe und dem immateriellen Kulturerbe. Es werden Strukturen zerstört, die das lebendige Erbe, die kulturellen Identitäten in der Ukraine nachhaltig beschädigen. Da müssen wir Expertise entwickeln und vermitteln, wie evakuiere ich Kulturgut, wie schütze ich Kulturgut? Und wie verhindere ich den illegalen Transfer von Kulturgut?

Das Thema Bildung spielt eine zentrale Rolle: Zum Glück war das Bildungswesen in der Ukraine schon vor dem Krieg sehr stark digitalisiert. Die UNESCO stellte 50.000 Computer gemeinsam mit Google bereit, um den digitalen Unterricht aufrecht zu erhalten. Außerdem verfügt die UNESCO über Mechanismen, um auch die freie Presse zu unterstützen.

Vor kurzem wurde Odessa auf die Liste des Weltkulturerbes gesetzt. Wie geschah das?

Es war ein Zeichen der schnellen Reaktionsfähigkeit der UNESCO, denn Odessa – das schon länger auf der Tentativliste stand – wurde zeitgleich mit der Einschreibung auf die Rote Liste des bedrohten Welterbes gesetzt: Das heißt zusätzliche Aufmerksamkeit, Schutz und – im schlimmsten Fall – finanzielle Unterstützung beim Wiederaufbau.

Gab es Proteste von russischer Seite und gibt es derzeit noch Kontakt zur UNESCO-Kommission in Russland?

Zur russischen UNESCO-Kommission oder anderen staatlichen Stellen in Russland gibt es keinen Kontakt. Aber uns ist wichtig, dass die Zivilgesellschaft Kontakt hält, dass in der Wissenschaft, in der Kunst ein Dialog weiter existiert.

Wir wollen nicht, dass die Kultur Russlands in diesen Konflikt gerät, weil wir die russische Sprache, die russische Musik als einen großen Schatz betrachten, der nicht in Mitleidenschaft gezogen werden darf – in der Zeit des Krieges und danach.

Was kann die UNESCO für die ukrainischen Künstlerinnen und Künstler tun, die zu uns geflüchtet sind?

Die UNESCO selbst hat zum Beispiel ein Programm zur Unterstützung ukrainischer Künstlerinnen ins Leben gerufen, die wegen des Krieges aus ihrem Land fliehen mussten. Inzwischen geht es aber vor allem auch um die Frage, wie wir mit den ukrainischen Kulturschaffenden Kontakt halten, etwa im Sinne von Partnerschaften für den künftigen Wiederaufbau. In Zukunft wird die Verbindung zur Ukraine, im Bildungssektor, im Kultursektor deutlich stärker werden. Gerade da sind UNESCO-Netzwerke äußerst hilfreich.

Wir haben in der Deutschen UNESCO-Kommission die “Kontaktstelle für kulturelle Vielfalt”, sie beobachtet: Wie sind die Kulturschaffenden bei uns angekommen? Wie funktionieren die Angebote, die für sie ja in großer Vielfalt unter anderem von der Bundesregierung gemacht wurden, aber auch aus der Zivilgesellschaft. Wir wollen damit auch im europäischen Netzwerk der Nationalkommissionen lernen, welche Angebote und Mittel werden künftig benötigt? Was funktioniert, was nicht?

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Wird die UNESCO strafrechtliche Schritte einleiten, sollte es zur Zerstörung von Weltkulturerbe kommen?

Es gibt in der Tat die Zusammenarbeit zwischen UNESCO und dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Das ist ein Mechanismus, der schon einmal erfolgreich unter Beweis gestellt wurde: Als in Timbuktu die Mausoleen zerstört wurden, wurde der Drahtzieher zu neun Jahren Haft verurteilt und zu einer hohen Millionenstrafe. Das zeigt, dass das akribische Monitoring der Schäden durch die UNESCO zu rechtlichen Konsequenzen führen kann.

Wir dürfen nicht vergessen, es geht um das Erbe der Menschheit.

Was steht für Sie im Zentrum dieses Krieges, der auch gegen Kultur und Kunst geführt wird?

Die große Gefahr des Krieges ist, dass jenseits der humanitären Katastrophe, der zerstörten Familien, der zerstörten Kindheiten – auch eine zerstörte Kulturlandschaft zurückgelassen, kulturelle Identitäten ausgelöscht werden.

Gerade in Zeiten großer Konflikte, großer Traumata, dienen Kultur und Kunst als Instrument der Bewältigung, um sich Ausdruck zu verschaffen, um in einen neuen Dialog zu treten.

Das Gespräch führte Andrea Horakh.