Ukrainische Sportler sehen Boykott internationaler Wettkämpfe kritisch

Der Widerstand von Athletinnen und Athleten gegen den von der ukrainischen Regierung angestrebten Boykott von internationalen Wettkämpfen, bei denen russische Aktive antreten, hat eine prominente Fürsprecherin gewonnen: Olga Saladukha, zweifache Olympia-Teilnehmerin und Abgeordnete des ukrainischen Parlaments, unterstützt die Forderung an die Regierung, ihre Haltung in der Frage zu überdenken. 

Die Dreisprung-Bronzegewinnerin der Olympischen Spiele 2012 in London bezeichnete die Situation als “schwierig”, bekräftigte aber, man tue im ukrainischen Parlament “alles, was wir können”, damit ukrainische Athletinnen und Athleten bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris antreten könnten. “Ich denke, ukrainische Athleten sollen und müssen an den Olympischen Spielen teilnehmen”, sagte Saladukha auf der “Peace and Freedom”-Konferenz in Estlands Hauptstadt Tallinn. “Sie müssen konkurrieren, sie müssen unsere Stärke und Macht demonstrieren.”

Die ukrainische Regierung hatte wegen des russischen Angriffskriegs im April ein Dekret erlassen, das den Athletinnen und Athleten des Landes die Teilnahme an Wettkämpfen untersagt, bei denen auch Russen und Belarussen starten. Damit wird in einigen Sportarten für ukrainische Aktive die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Paris verhindert. Saladukha erklärte, das ukrainische Parlament appelliere an die Solidarität Europas, um den fortdauernden Ausschluss russischer Sportlerinnen und Sportler von internationalen Wettbewerben zu erreichen. 

Appelle an IOC

Dafür soll laut Saladukha auch beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) geworben werden. “Führende Vertreter unserer Sportorganisationen sagen, dass sie auf internationaler Ebene daran arbeiten, Menschen wie Thomas Bach [IOC-Präsident, Anm. d. Red.] zu überzeugen”, sagte Saladukha. “Aber wie wir sehen können, ändern sich Bachs Entscheidungen und seine Rhetorik jeden Tag.”

Saladukhas Aussagen ähneln denen des ukrainischen Skeleton-Piloten Vladyslav Heraskevych, der mit seinem “Kein Krieg in der Ukraine”-Schild bei den Olympischen Winterspielen in Peking im vergangenen Jahr für Schlagzeilen gesorgt und anschließend eine eigene Hilfsorganisation gegründet hatte. Auch er sprach sich gegen den von der Regierung angestrebten Boykott aus. “Die Olympischen Spiele und der internationale Sport bieten eine sehr große Medienplattform”, sagte Heraskevych der DW. Man dürfe diese Plattform “nicht den russischen und weißrussischen Narrativen überlassen”.

Vladyslav Heraskevych bei den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking

Vladyslav Heraskevych bei den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking

Politische Einmischung in den Sport

Mit ihrem Dekret hatte die ukrainischen Regierung  auf die vom IOC abgegebene Empfehlung für eine Rückkehr von russischen und belarussischen Athleten auf die olympische Bühne reagiert. Aktive aus beiden Staaten sollen nach dem Willen des IOC als sogenannte “neutrale Athleten” – ohne nationale Flagge, Hymne oder sonstige nationale Erkennungsmerkmale – antreten dürfen. 

In seiner Begründung berief sich das IOC auf Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen und deren Argument, dass ein pauschales Verbot aufgrund der Nationalität diskriminierend sei. Das IOC kritisierte außerdem die Ukraine wegen politischer Einmischung. Es sei “nicht Sache der Regierungen, zu entscheiden, welche Athleten an welchen internationalen Wettbewerben teilnehmen können”.

Ukrainische Geflüchtete protestieren beim Ruhr Forum in Essen im März 2023 gegen die IOC-Entscheidung und Präsident Bach

Ukrainische Flüchtlinge protestierten im März in Essen gegen die IOC-Entscheidung und Präsident Bach

Für Olga Saladukha sind Sport und Politik jedoch untrennbar miteinander verbunden. “Dieser Krieg ist schrecklich, tausende Menschen sterben, und wir reden über einen Kriegsverbrecher [gemeint ist Russlands Präsident Wladimir Putin, Anm. d. Red.], der die Welt mit Atomwaffen bedroht”, sagte die Parlamentarierin. “Wir wissen, dass die Sportler in Russland Teil der propagandistischen Agenda sind.” 

Anatol Kotau, im Exil lebender ehemaliger Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees von Belarus, sprach von “erschütternder Heuchelei”: “Es ist inakzeptabel, dass das IOC der Ukraine vorwirft, sich in den Sport einzumischen.” Der Sport in Russland und Belarus sei grundsätzlich von staatlichen Interessen geprägt, sagte Kotau auf der Konferenz in Tallinn. 

“Bach erlaubt Terroristen die Teilnahme”

Während einige Sportverbände den Ausschluss von Sportlerinnen und Sportlern aus Russland und Belarus aufrechterhalten, folgen andere Verbände der IOC-Empfehlung – beispielsweise im Fechten, Judo und Gewichtheben. Der ukrainische Judo-Verband boykottierte die Weltmeisterschaft, die gerade in Katars Hauptstadt Doha zu Ende ging – mit der Begründung, bei der Mehrheit der Teilnehmenden aus Russland habe es sich um ehemalige “aktive Soldaten” gehandelt.  

Viele Sportorganisationen und -vereine in Russland haben Verbindungen zum Militär und zum Verteidigungsministerium. Ein Beispiel dafür ist der prominente Armee-Klub ZSKA Moskau. Laut der Nachrichtenagentur Associated Press waren fünf von 18 für die Judo-WM gemeldeten Athletinnen und Athleten aus Russland ZSKA-Mitglieder.

Die ukrainische Judoka Daria Bilodid bei einem Turnier in Frankreich

Die ukrainische Judoka Daria Bilodid

Die zweimalige Weltmeisterin Daria Bilodid aus der Ukraine fragt sich, wie das zulässig sein kann. “Das ist doch Unsinn oder?”, schrieb die Judoka bei Instagram. “Ich halte es für inakzeptabel, Militärangehörigen eines terroristischen Landes, die jeden Tag Ukrainer töten, die Teilnahme an internationalen Wettkämpfen zu gestatten. Das widerspricht den Werten des Sports vollständig.”   

Das IOC hat die Entscheidung über die Qualifikation für Paris 2024 mit seiner Empfehlung quasi in die Hände der jeweiligen Sportarten gelegt. Eine Entscheidung über die Spiele selbst ist laut IOC damit noch nicht getroffen. Die ehemalige ukrainische Leichtathletin Nataliya Dobrynska, Olympiasiegerin im Siebenkampf bei den Spielen 2008 in Peking, sagte auf der Konferenz in Tallinn, Bach und das IOC hielten sich nicht an ihre eigenen Grundsätze: “Die Olympischen Spiele sollen dafür sorgen, dass in der Welt Einigkeit herrscht. Aber wenn man sich den Krieg in Russland ansieht, wie kann man da von Einheit sprechen?” 

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.