Schutz unterm Zirkuszelt – Musical über die Nazizeit

Eigentlich wollte die britische Theaterautorin Hattie Naylor ja eine ganz andere Geschichte erzählen als jene, die nun erfolgreich durch Großbritannien tourt. Ihr ursprünglicher Plan war ein Stück, das auf dem legendären Horrorfilm “Freaks” des US-amerikanischen Regisseurs Tod Browning aus dem Jahr 1932 basiert. Der Film hatte sie sehr beeindruckt, “da Menschen mit Behinderung die Helden darin sind”, wie sie gegenüber der DW erzählt. Doch es gab Probleme mit der Rechtesituation, und je tiefer Naylor in die Geschichte von Zirkussen jener Ära einstieg, umso mehr begann sich in ihrem Kopf eine ganz andere Geschichte zu formen: die von “Waldo’s Circus of Magic and Terror” (dt. Waldos Zirkus der Magie und des Terrors).

Im Rahmen ihrer Recherchen stieß Hattie auf zahlreiche Geschichten von Zirkussen, wo Menschen mit Behinderung arbeiteten – vor und während der Nazizeit, auf kleinwüchsige Artistinnen und Clowns, auf jüdische Zirkusdirektoren und auf Adolf Althoff, einen deutschen Zirkusdirektor, der die jüdische Artistenfamilie Bento in seinem Zirkus während des Krieges versteckte und beschäftigte. Und Hattie Naylor fand heraus, wie sich einige Zirkusleute über Tourneen und internationale Zirkusnetzwerke vor dem sicheren Tod in Vernichtungslagern retten konnten.

Eine Frau mit einem Laptop unterhält sich mit einem Mann im Rollstuhl

Nattie Haylor (rechts) und ihr Co-Autor Jamie Beddard

Vernichtung von Menschen mit Behinderung

Die Nazis brachten während des Krieges mehr als 250.000 Menschen mit Behinderung um. Diese wurden gnadenlos gejagt oder von ihren Verwandten ausgeliefert. Den Tod fanden sie oft erst, nachdem menschenverachtende Experimente mit ihnen gemacht worden waren – so wie im Fall des kleinwüchsigen, weltweit bekannten Zirkusstars Lya Graf, die 1941 in Auschwitz umkam. Hattie Naylor war besonders entsetzt zu lesen, dass das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” eines der ersten war, das Adolf Hitler nur ein halbes Jahr nach seiner Machtergreifung im Januar 1933 erließ. Denn deutsche Kinder sollten in seiner rassistischen Allmachtsfantasie “flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl” sein. Das Gesetz war nur der Anfang.

Unter den Nazis wurden Tausende von Menschen mit Behinderung, Kleinwüchsige oder Menschen mit psychischen Störungen zwangssterilisiert – mit dem Ziel der “Reinhaltung des deutschen Volkskörpers”. Sie waren genauso unerwünscht wie Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, unangepasste Künstlerinnen und Künstler oder politische Gegnerinnen und Gegner. Die Geschwindigkeit, mit der all das in den 1930er Jahren geschah, machte Hattie Naylor auch bewusst, wie wichtig es ist, heute diese Geschichten zu erzählen – “angesichts des wachsenden Faschismus in Europa und Großbritannien und dubiosen Bewegungen in aller Welt”, wie sie im DW-Interview sagt.

Ein Mann sitzt auf einer Bühne und lächelt eine kleinwüchsige Frau im Kleid an, sie wirft sich in Pose

Gerhard (Lawrence Swaddle) schmachtet Krista (Abbie Purvis) an.

Mut angesichts ständiger Bedrohung

Aus den unfassbar tragischen Geschichten von Menschen, die qualvoll starben und den hoffnungsvollen Geschichten von Menschen, die ihr Leben riskierten, um andere zu retten, wob Hattie Naylor die Geschichte einer fiktiven Zirkustruppe in Brandenburg im Jahr 1933. Die kleinwüchsige Krista (Abbie Purvis) ist der Star der Truppe. Der nicht behinderte Gerhard (Lawrence Swaddle), ein Neuzugang, verliebt sich in die Seilartistin. Gerhards Schwester Margot (Mirabelle Gremaud), eine überzeugte Nationalsozialistin, will Krista und die anderen Artisten mit Behinderung zwangssterilisieren lassen. Der Zirkusdirektor Waldo (Garry Robson) zeigt sich zunächst ungerührt von der wachsenden Bedrohung für seine Truppe, doch dann beschließt er, seinen Leuten zu helfen.

Die Geschichte liest sich wie ein klassisches Drama, eine Art Romeo und Julia-Story in Zeiten der Gefahr. Doch gleichzeitig ist es auch bahnbrechend: Es beleuchtet einen Teil der Geschichte des Dritten Reichs, über den es bislang nur wenig Literatur gibt, geschweige denn Bühnenstücke. Und ihre kongeniale Umsetzung durch die inklusive Zirkustruppe “Extraordinary Bodies” in eine veritable Zirkusshow macht “Waldo’s Circus” gleichzeitig höchst unterhaltsam, was auch zu positiven Kritiken unter anderem in der renommierten Tageszeitung “The Guardian” führte.

Inklusiv und offen für alle

Beim Schreiben des Stücks bekam Nattie Haylor Unterstützung von ihrem Co-Autor Jamie Beddard, der selbst Zerebralparese hat und im Rollstuhl sitzt. Die Produktion der Zirkusshow war ein regelrechter Drahtseilakt. Um größtmögliche Authentizität zu erreichen, wurde das Casting oft zur Suche der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen und dauerte insgesamt eineinhalb Jahre, wie Regisseurin Claire Hodgson berichtet: “Wir mussten Menschen finden, die gleichzeitig Musical-Performer, Schauspielerinnen und Zirkusartisten sind und verschiedene Identitäten haben – gehörlose Menschen, Menschen mit und ohne Behinderung, jüdische Menschen.”

Menschen mit und ohne Behinderung deklamieren und trainieren

Die inklusive Truppe von “Waldo” beim einer Probe

Im März hatte “Waldo’s Circus” Premiere und tourt noch bis Juni durch mehrere Theater in Südengland. Nicht nur die Kritik, auch das Publikum ist begeistert. Denn ähnlich wie beim Casting achtete das Team von “Extraordinary Bodies” auch bei der Show selbst penibel darauf, dass sie besonders jene Menschen erreicht, die sonst selten ins Theater kommen können: So wird simultan auf der Bühne in Gebärdensprache übersetzt, die Zuschauerräume sind barrierefrei und die Aufführungen sind “Chill performances”, was bedeutet, dass das Publikum jederzeit unfreiwillige Laute von sich geben und sich bewegen oder zur Toilette gehen kann, ohne das Gefühl haben zu müssen, das Ensemble zu stören. Eine Liveband spielt den beeindruckenden, eigens für das Stück komponierten Song von Charles Hazlewood.

Hoffnung auf Export in andere Länder

Besonders stolz ist Claire Hodgson darauf, dass “Waldo’s Circus” ein regelrechter Hit in der gehörlosen Gemeinschaft rund um Bristol geworden ist – ausgerechnet ein Musical. “Wir haben sehr viel Wert darauf gelegt, dass die Übersetzung in Gebärdensprache gut funktioniert und Teil des Stücks ist.” Und es gebe auch genug Momente, in denen das gehörlose Publikum rein visuelles Storytelling genießen kann. Die begeisterten Reaktionen in Bristol haben Claire berührt: “Wenn Gehörlose applaudieren, heben sie ihre Hände hoch und winken sie hin und her, es war ein Meer aus wedelnden Händen, das war wunderschön.”

Eine Frau unterhält sich mit einem jungen Mann im Rollstuhl

Claire Hodgson (links) mit Schauspieler Jonny Leitch

Laut den Macherinnen von “Waldo’s Circus of Magic and Terror” haben noch keine deutschen Medien über das Stück berichtet. Aber sie hoffen darauf, dass auch andere Theaterkompagnien sich an das Musical wagen und es weiter aufführen, denn im Juni beendet “Extraordinary Bodies” seine Aufführungen in England. Es wäre nicht nur dem Team dahinter zu wünschen, sondern auch all den nicht erzählten Geschichten von Menschen mit Behinderung im Dritten Reich. Tausende davon wurden bisher von niemandem erzählt. “Für diese Menschen habe ich geschrieben”, sagt Hattie Naylor.