Meinung: Wladimir Putin will und wird nicht verhandeln

Die Frage muss gestellt werden: Ist es diese Rede Putins zur Lage der Nation wirklich wert, kommentiert zu werden? Muss schon wieder analysiert werden, mit welchen Lügen der russische Präsident seinen Krieg gegen die Ukraine rechtfertigt? Der Westen sei für alles verantwortlich, der Westen habe den Krieg in der Ukraine begonnen – mit dieser unverfrorenen Schuldzuweisung bringt Putin seinen revisionistischen Wahn selbst auf den Punkt. Aber, er nimmt sie zum Fixpunkt für Überlegungen, die tiefer blicken lassen.

Erneut behauptet Putin, sein Raubkrieg in der Ukraine sei ein Verteidigungskrieg gegen den Westen. Diese absurde Herleitung wird gerne als Propaganda-Narrativ bezeichnet und damit kleingeredet. Denn wer in dieser Behauptung nur das rhetorische Mittel eines Diktators sieht, der die Reihen schließen will, der patriotische Gefühle anfachen und die Mobilisierung von Gesellschaft und Wirtschaft vorantreiben möchte, der macht es sich wohl zu einfach. Putin ist längst zum Gefangenen seiner eigenen Propaganda geworden. In seinem Cäsaren- oder besser: Zarenwahn scheinen tiefsitzende Kränkungen auf, die sich in seinem Volk widerspiegeln. Denn in Russland verspürt beileibe nicht nur die Machtelite im Kreml und im Militär den Phantomschmerz einer gefallenen Weltmacht. Es ist diese ebenso komplexe wie komplexbeladene Stimmungslage, in der Putin für seine Behauptung, die Existenz Russlands stehe auf dem Spiel, Beifall bekommt.  

Übermaß an Psychologie in der Politik   

Eine dermaßen aufs Psychologische und damit fast schon zwangsläufig politisch Unlogische fixierte Analyse darf den Blick nicht für die massiven und imperialen Interessen eines kriegführenden Landes trüben. Nach dieser Rede aber, in der Putin weitere Brücken zum Westen abbrach, ist noch deutlicher geworden, wie schwer es sein wird, mit Russland wieder auf jenen Nenner zu kommen, der Voraussetzung ist, um miteinander zu reden.

Christian Trippe - Leiter der Hauptabteilung Osteuropa und DW Russisch

Christian F. Trippe leitet die Osteuropa-Programme

Beobachter hatten vor Putins Rede erwartet, dass er der Ukraine offiziell den Krieg erklären könnte, dass er eine neue Mobilmachungswelle ankündigt, das Kriegsrecht verhängt, die Grenzen des Landes schließt, erneut mit dem Atomsäbel rasselt. Nichts davon. Putin kündigt an, mit den USA keine weiteren Verhandlungen über einen Vertrag zur Begrenzung der Nuklearrüstung führen zu wollen. Verhandlungen über Abrüstung, über Frieden oder einen Waffenstillstand – das ist die ernüchternde Bilanz seiner Rede – sind mit Putins Russland derzeit nicht zu führen. Vielleicht sind sie mit diesem Regime blind ergebener Claqueure, das der russische Präsident um sich geschart hat, überhaupt nicht mehr zu führen.   

Kontrahenten Putin und Biden

Zum Krieg in der Ukraine bleibt Putin merkwürdig vage. Er lässt aber durchblicken, dass die Kämpfe noch lange dauern werden, dass er folglich auf einen Abnutzungskrieg setzt. Sein geopolitisches Kalkül liegt auf der Hand: Putin setzt darauf, dass Ende nächsten Jahres in den USA ein Präsident gewählt wird, der nicht mehr so uneingeschränkt transatlantisch tickt wie Joe Biden. Dass statt des Demokraten Biden ein Republikaner ins Weiße Haus kommt, der nicht mehr bereit ist, der Ukraine mit Waffenlieferungen und Dollarüberweisungen das Überleben zu sichern.

Putin stellt sein Land auf eine weitere und längere und in jeder Hinsicht kostspieligere Konfrontation ein, und er redet einer Abschottung gegen den Westen das Wort. Währenddessen reist US-Präsident Biden durch Europa, er zeigt sich im kriegsgezeichneten Kiew, er präsentiert sich in Warschau als Führer der freien Welt. Stärker könnte der politische Kontrast an diesem Tag der beiden Präsidentenreden kaum sein.