Ivan Krastev: “Es ist ein Mythos, dass es in Europa eine Spaltung zwischen Ost und West gibt, was die Einstellungen zum Ukraine-Krieg angeht”

Deutsche Welle: Herr Krastev, der Krieg gegen die Ukraine dauert jetzt schon ein Jahr lang. Was denken Sie, wie lange er noch weitergehen wird, wann er zu Ende sein wird?

Ivan Krastev: Sollte jemand die Antwort kennen, dann ist das eine Person, die keine Interviews gibt. Russland hat diesen Krieg angefangen. In Putins Ansprache zum Jahrestag des Krieges ging es nicht um dessen Ende, sondern um einen nie enden wollenden Krieg. Daraus kann ich folgern, dass ein möglicher Waffenstillstand nicht mit dem Kriegsende gleichzusetzen ist. Wenn Russland heute den Kampf aufgeben würde, wäre der Krieg zu Ende, wenn aber die Ukraine aufgeben würde, wäre das ihr Ende.

Die russische Propaganda behauptet, der Westen stehe alleine gegen den Osten, also gegen Russland und China. Der Globale Süden dagegen unterstütze Russland und China. Stimmt das?

Für uns Europäer hat dieser Krieg existenzielle Bedeutung, für fast alle anderen außerhalb Europas ist er aber nur ein weiterer Krieg. Länder wie Indien oder Brasilien sind keine Unterstützer von Russland. Für sie ist wichtig, wann der Krieg enden wird und nicht wie.

Ivan Krastev im DW Interview

Ivan Krastev in seinem Haus in der bulgarischen Hauptstadt Sofia

Und wie ist das mit China?

Chinas Position ist komplizierter. Es lässt sich noch nicht einschätzen, ob China sich mit seiner jüngsten Friedensinitiative als Fürsprecher für die nicht-westliche Welt profilieren oder eher Russland aktiver unterstützen will. Es ist kein Geheimnis, dass Moskau dringend große Mengen von Munition braucht und dass die russische Führung Peking mit Nachdruck um Munitionslieferungen bittet. China beobachtet den Krieg aus der Perspektive der eskalierenden Konfrontation mit den USA. In diesem Sinne würde eine Militärunterstützung  Chinas für Russland große Probleme für die USA und Europa erzeugen und zugleich würde sie die Beziehungen Pekings mit der EU zerstören.

Hat der Krieg den Westen und Europa zusammengeschweißt und konsolidiert? Länder wie Bulgarien sind ja sehr unentschlossen und schwanken dauernd zwischen unterschiedlichen Positionen.

Man sollte zwischen den Einstellungen der Regierungen und den Einstellungen der Gesellschaften differenzieren. Auf der Regierungsebene hat die Konsolidierung schon am ersten Tag nach dem Kriegsausbruch begonnen. Denken Sie an die zehn Stufen der massiven Sanktionen, die uns vor einem Jahr fast unmöglich schienen, wie zum Beispiel das Einfrieren der Anlagen der Russischen Zentralbank in westlichen Geldhäusern.

Zahlreiche europäische Politiker haben die Ukraine besucht. Hier: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell in Butscha am 8.04.2022

Zahlreiche europäische Politiker haben die Ukraine besucht. Hier: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell in Butscha am 8.04.2022

Und was ist mit der Öffentlichkeit?

Die Ergebnisse einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) in zehn Ländern zeigen eindeutig: Die Zahl derer, die glauben, Frieden sei nur möglich, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt, wächst. Im Mai 2022 gab es dazu nur in Polen eine Mehrheit, heute aber glauben das auch die meisten Briten und Franzosen. Die Meinung in Deutschland ist geteilt, aber noch vor einem Jahr glaubten die meisten Deutschen, es sei am wichtigsten, dass der Krieg zu Ende gehe. In mehreren europäischen Ländern sehen die Menschen einen möglichen Frieden nur als Ergebnis eines ukrainischen Sieges im Krieg. 

Aus meiner Sicht erklärt sich das aus einem Zusammenspiel von drei Faktoren. Erstens: Die Erfolge der ukrainischen Armee im Sommer und im Herbst überzeugten viele Menschen, dass ein ukrainischer Sieg möglich ist. Wie groß dieser Sieg ausfallen wird und ob das ganze Territorium befreit werden kann – das ist eine ganz andere Sache. Diejenigen, die für einen sofortigen Frieden eintreten, waren am Anfang mehrheitlich davon überzeugt, dass die Ukraine sowieso zum Scheitern verurteilt sei. Darum forderten sie, dass der Krieg sofort aufhören müsse, damit auch das unnötige Sterben von Menschen aufhöre. Auch heutzutage ist das übrigens eine verbreitete Einstellung: Stoppt den Krieg, ansonsten sterben noch mehr Menschen.

Frankreich Solidaritätsdemonstration für die Ukraine in Paris

Überall in Europa haben sich Menschen mit der Ukraine solidarisiert

Der zweite Faktor: Es gab große Ängste vor einem “Putin-Winter”, weil Europa ohne Gas aus Russland angeblich verloren sei. Aber durch das Zusammenspiel aus Regierungspolitiken und einem warmen Winter entpuppten sich diese Ängste als unbegründet.Drittens: In allen Ländern beobachten wir, dass die Befürchtungen, es könnte zu einem Atomkrieg kommen, abgenommen haben. Diesе Befürchtungen waren besonders in Westeuropa sehr verbreitet.

Warum sind diese Befürchtungen geringer geworden?

Einerseits, weil klar wurde, dass China den Gebrauch von taktischen Nuklearwaffen kategorisch ablehnt. Andererseits ist sichtbar geworden, dass – genau wie in den Jahren des Kalten Krieges – der Kommunikationskanal zwischen den USA und Russland immer noch funktioniert, wenn es darum geht, die Gefahren radikaler Eskalationen einzudämmen.

Und wie sieht die öffentliche Meinung in den einzelnen Ländern oder Ländergruppen aus?

Es ist ein Mythos, dass es in Europa eine Spaltung zwischen Ost und West gibt, was die Einstellungen zum Krieg angeht. Es ist ein Mythos, dass der Osten die Ukraine bis zum Ende unterstützen würde, während der Westen eher vorsichtiger und zurückhaltender sei. Wenn man auf die Umfragen schaut, wird man sofort feststellen, dass der Osten selbst in dieser Sache sehr uneinig ist. Gerade in einigen osteuropäischen Ländern ist die Unterstützung für die Ukraine am schwächsten.

Zum Beispiel in Bulgarien.

Ja, in Bulgarien und in der Slowakei. Auch in Rumänien ist der Wunsch nach einem sofortigen Frieden sehr stark ausgeprägt. Die Spaltung verläuft anders: Die nord- und osteuropäischen Länder, die direkt an Russland grenzen, glauben nämlich, dass nur eine Niederlage Russlands den nachhaltigen Frieden in Europa sichern kann. Dann kommen Länder wie Deutschland und Frankreich, wo die Menschen zwar Russland auch als eine Gefahr für Europa betrachten, aber Friedensverhandlungen nicht ausschließen. Und zum Schluss die Länder im Süden und Südosten Europas, die eher einen langen Krieg als eine russische Invasion befürchten. Jede einzelne dieser drei Gruppen hat ihre eigenen, spezifischen Ängste, weil geschichtlich gesehen die Alpträume immer national bedingt und nicht gesamteuropäisch sind.

Internationale Proteste zum Jahrestag des Ukraine Kriegs

Proteste in Sofia zum ersten Jahrestag des Krieges am 24.02.2023

Im vergangenen Kriegsjahr gab es in Europa breite Unterstützung für die Ukraine, militärisch, politisch und moralisch. Für wie stabil halten Sie diese europäische Unterstützung in der Zukunft?

Sie ist zerbrechlich. Entscheidend sind vier Faktoren, die selbst instabil sind. Der wichtigste unter ihnen ist das Geschehen an der Front. Russische Kriegserfolge könnten die Hoffnung der Europäer, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann, ins Wanken bringen. Der zweite Faktor ist das Gefühl, dass Europa stärker geworden ist. Doch jede Krise in dem einen oder anderen europäischen Land könnte die öffentliche Meinung negativ beeinflussen. Der dritte entscheidende Faktor für die öffentliche Unterstützung der Ukraine ist die Politik der USA in Europa. Der Krieg hat die totale Abhängigkeit Europas von den USA, was die militärische Sicherheit anbetrifft, nur wieder bestätigt. Daraus folgt: Sollte sich die Situation in den Vereinigten Staaten ändern, sollte ein neuer Präsident mit einer anderen Politik gegenüber der Ukraine an die Macht kommen, dann wird die erwähnte Konsolidierung in Europa womöglich nicht mehr halten. Und ein vierter Faktor könnte die europäische Einigkeit gefährden: die wirtschaftlichen Ängste der Europäer.

Glauben Sie, Russland könnte selbst durch den Angriffskrieg in den Abgrund gerissen werden? Oder wird es eher die ganze Welt, wie wir sie kennen, in den Abgrund reißen?

Möglich ist sowohl das eine, als auch das andere. Deutlich zu sehen ist, dass ein Großteil der russischen Gesellschaft den Krieg akzeptiert hat. Oder, genauer gesagt, die Menschen denken eher: “Das ist nicht mein Krieg, aber es ist mein Land.” Je länger der Krieg andauert, desto sichtbarer werden zwei gegensätzliche Entwicklungen. Wenn so viele Menschen sterben – und Russland hat in diesem Krieg tatsächlich sehr viele Menschen verloren – ist es für die Mütter der Gefallenen schier unmöglich zu sagen, dass ihre Söhne umsonst gestorben sind. So entsteht das Gefühl, dieser Krieg sei sehr wichtig und man wisse, wofür man sterbe. Je mehr Menschen sterben, desto stärker wird dieses Gefühl. Gleichzeitig aber gibt es auch die Mütter, deren Söhne noch nicht gestorben sind. Und sie fragen sich: “Wofür eigentlich müssen unsere Söhne sterben? Und wann ist der verdammte Krieg zu Ende?” Ich muss allerdings gestehen, dass ich im Moment sehr skeptisch bin, ob der Krieg zu Ende geht, sobald die Russen gegen ihn auf die Straße gehen.

Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev ist Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) in Wien.

Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des European Council on Foreign Relations und Mitglied des Kuratoriums der International Crisis Group. Krastev publiziert regelmäßig in verschiedenen Medien wie etwa der Zeitschrift Transit – Europäische Revue oder der New York Times.